Ein Weg durch den Dschungel der Tumordokumentation



Das Thesenpapier „Ein Weg durch den Dschungel der Tumordokumentation“ aus dem Jahr 2016 ist im Nachgang des Projektes zur Analyse, Modellierung und Optimierung der Dokumentations-, Diagnostik- und Therapieprozesse für verschiedene Tumorerkrankungen am Universitätsklinikum Erlangen entstanden.

In diesem Zuge greift es die bedeutende elektronische Dokumentation in hochgradig verzweigten interdisziplinären onkologischen Prozessen mit zahlreichen Stakeholdern auf, deren – zumindest teilweise – differierende Interessen zu Konflikten in der klinischen Informationstechnologie führen können.



Ein Weg durch den Dschungel der Tumordokumentation (2016)

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Dr. med. Stefan Wagner, MHBA

Abstract

Die WHO sagt einen dramatischen Anstieg an Krebserkrankungen voraus. Aktuell ist die medizinische Dokumentation nicht einheitlich, sondern vergleichbar mit einem dichten Dschungel durch eine Kombination aus Papier und diversen EDV-Anwendungen. Insbesondere bei Tumoren erstrecken sich die komplizierten Prozesse über lange Zeiträume, involviert sind zahlreiche Fachrichtungen. Mein neues, umfassendes Gesamtmodell aller Diagnostik- und Therapieprozesse einschließlich Nachsorge sowie Dokumentation bietet die Lösung des Problems. Es liegt voll im Trend der Digitalisierungsoffensive und senkt die Dokumentationslast für Ärzte und Pflege erheblich. Die vernetzte Forschung wird über Klinikgrenzen hinweg gefördert sowie den Patienten zu einer besseren Behandlung verholfen. IT-Verantwortliche profitieren von der Übertragbarkeit auf andere Organisationen und weitere Tumorarten, ebenso wie die Kostenträger, indem  Ressourcen effizienter genutzt werden.

Hintergrund und gesellschaftliche Bedeutung

Die Weltgesundheitsorganisation prognostiziert einen dramatischen Anstieg an Krebserkrankungen im Jahr 2020 in ihrem World Cancer Report. Für die nächsten Jahrzehnte wird ein steiler Anstieg an Neuerkrankungen erwartet, während die Bevölkerung zugleich immer älter wird. Die Zahl der tumorbedingten Todesfälle steigt trotz innovativer Behandlungsmethoden an – neben kardiovaskulären, neurologischen und pulmonalen Ursachen. Diesen gesellschaftlichen Trend belegen statistische Auswertungen des Robert Koch Institutes zusammen mit dem dort ansässigen Zentrum für Krebsregisterdaten, das deutschlandweit Informationen zu Tumorerkrankungen und deren Verläufen sammelt sowie mit Blick auf das gesamte Land verarbeitet. Nicht nur im Medizinsektor tragen EDV-gestützte Innovationen zu einer optimierten Patientenversorgung oder sogar bereits im Screening von Erkrankungen bei. Der IT-Bereich wurde nicht ausschließlich durch die Tendenz zur stärkeren Vernetzung durch soziale Medien, die globale Wirtschaft, Kommunikation oder Big Data stetig wichtiger für das eigene Leben. Er machte mit seiner rasanten Entwicklung auch vor Arztpraxen, Medizinischen Versorgungszentren und Krankenhäusern nicht Halt.

Bezüglich der Informationstechnologie hat Deutschland im internationalen/europäischen Vergleich jedoch noch erheblichen Nachholbedarf, was aus einer Analyse der Europäischen Kommission zur Ausgangssituation der Kliniken in Europa mit Fokus auf die IT-Landschaft sowie Vernetzung klar hervorgeht. Nur zwei von drei Krankenhäusern setzen demzufolge elektronische Krankenakten ein, lediglich sechs Prozent der deutschen Kliniken sind im Bereich der unmittelbaren akuten Patientenversorgung mit weiteren Beteiligten im Gesundheitswesen digital vernetzt. In Dänemark oder Schweden ist es hingegen bereits die Hälfte aller Kliniken. Das Thema meiner Dissertation hat diese Zeichen der Zeit bereits frühzeitig im März 2011 mit Schwerpunkt auf die Tumordokumentation aufgegriffen.

Diesen Trend zur Digitalisierung hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung ebenfalls als wichtigen Ansatzpunkt im Jahr 2015 erkannt. Ein „Förderkonzept Medizininformatik, Daten vernetzen – Gesundheitsversorgung verbessern“ wurde deswegen initiiert. Es soll einrichtungsübergreifende Lösungen für typische Anwendungsszenarien im Datenaustausch zwischen Forschung sowie Patientenbetreuung entwickeln und implementieren, die sich schlussendlich nahezu auf ganz Deutschland flächendeckend übertragen lassen. In vielen Teilen Deutschlands sind Forschung und klinische Versorgung in Hinblick auf die Datennutzung gegenwärtig als kleine eigenständige Inseln anzusehen, welche nur selten ihre zahlreichen Informationen miteinander austauschen. Das Phänomen der Dateninseln kann des Weiteren in der Diagnostik und Behandlung von Tumoren wiedergefunden werden. Dort hat es entscheidenden Einfluss. Die Dokumentationsanforderungen in der Betreuung von Patienten und der Tumorforschung weisen in Teilen Schnittmengen auf, lassen sich aber nicht vollständig zur Deckung bringen. Ohne eine intelligente und unkompliziert umzusetzende Datenverknüpfung können beide Partner nicht voneinander zur Gewinnung neuer Erkenntnisse profitieren.

Denn es handelt sich um eine inter- und multidisziplinäre Aufgabe mit unzähligen Akteuren und möglichen Orten, deren zunehmende Vielschichtigkeit sich auch in den zusammengeschlossenen speziellen Zentren und den damit verbundenen erfolgreichen Zertifizierungen, nach Vorgaben der Deutschen Krebsgesellschaft, ausdrückt: Pathologie, Radiologie, Hämatologie, Internistische Onkologie, Chirurgie, Strahlentherapie, Sozialdienst, Pflegedienst, ambulanter Sektor und weitere…

Mit jedem einzelnen Prozessschritt ist die medizinische Dokumentation untrennbar verbunden. Sie dient neben der eigentlichen medizinischen Leistungserfassung unter anderem abrechnungstechnischen Gründen. Ärzte verbringen aktuell mehr als ein Drittel ihrer täglichen Arbeitszeit mit Dokumentations- und Verwaltungsaufgaben. Die Bereiche Qualitätssicherung/Qualitätsmanagement, Screening, Disease Management Programme, medizinische Dokumentation und erneute Verwendung vorhandener Informationen einschließlich Versorgungsdatenforschung werden durch gesetzliche Erfordernisse weiter signifikant an Bedeutung gewinnen – nicht zuletzt aufgrund des E-Health-Gesetzes, der Telematikinfrastruktur und der Elektronischen Gesundheitskarte. Umfangreiche, teilweise unübersichtliche  und komplizierte Prozesse mit zahlreichen denkbaren Verzweigungen und zur Wahl stehenden Entscheidungsoptionen sind, im Zusammenhang mit Krebserkrankungen, eher die Regel als die Ausnahme, da sie sich über lange Zeiträume erstrecken können, beispielsweise durch die erforderliche Nachsorge mit ihren regelmäßigen Kontrollen nach überstandener Primärerkrankung. Um den verschiedensten Erfordernissen und Wünschen, sowohl der unmittelbar Prozessbeteiligten als auch der sekundären Datenverwendung, gerecht werden zu können, basiert das im Rahmen der Dissertation entwickelte Modell auf dem Single-Source-Ansatz. Dies bedeutet konkret, dass medizinische Daten am jeweiligen Ort und zum entsprechenden Zeitpunkt ihrer Entstehung genau einmal elektronisch erfasst sowie anschließend für alle weiteren Nutzungsszenarien und Fragestellungen eingesetzt werden können. Es soll also nur eine Datenquelle geben. Aus einer großen Datenbank, die sämtliche Informationen bündelt, werden die jeweils konkret benötigten Merkmale über Datenbankabfragen exportiert. Da es sich um sehr vielschichtige Informationen handelt, kommen Big Data-Methoden bei der Auswertung verstärkt zum Tragen.

Worin liegt das Problem? Wie lässt sich dieses lösen und mit Erfolg bewältigen?


Digitale Patientenakten und EDV-Anwendungen in den Kliniken gibt es bereits. Doch neben elektronischer Datenerfassung existieren zumeist eine parallele täglich geführte Papierkurve für das Pflegepersonal auf Station sowie eine Papierakte mit wichtigen Befunden und einem Anamnese- und Untersuchungsbogen. Auf Papier festgehaltene Informationen müssen in aufwändigen Verfahren durch geschulte Dokumentare und/oder studentische Hilfskräfte oder ärztliches Personal mindestens ein weiteres Mal am Computer eingepflegt werden, um sie erfolgreich weiteren Zwecken zuführen zu können. Dadurch werden nicht nur zeitliche und personelle Ressourcen beansprucht, sondern enorme Kosten verursacht. Zu bedenken ist ferner, dass es zwangsläufig zu einer nicht zu unterschätzenden relevanten zeitlichen Verzögerung in der Weiterverwendung kommt. Um die Lagerkosten durch Papierakten in den Archiven der Krankenhäuser zu verringern, wurden Scaneinheiten eingerichtet und die Papierversionen nach dem Scannen datenschutzgerecht vernichtet. Am Beispiel des Universitätsklinikums Erlangen wurden zur Lagerung mehrere große Hallen nötig. Von der scantechnischen Digitalisierung erhoffte man sich die Vermeidung vieler manueller Dateneingaben. Reine Scanverfahren von Papierakten erweisen sich häufig jedoch nach der anfänglichen Euphorie als ein zusätzliches Datengrab, obgleich es bereits Versuche einer systematischen automatisierten Texterkennung gibt. Spätestens an handschriftlichen Vermerken oder unleserlichen Seiten scheitert die Software, wohingegen es bei reinen getippten Textblöcken funktionieren könnte – in Abhängigkeit von der Scanqualität. Es ist vollkommen offensichtlich, dass durch Mehrfacherhebungen Daten unwillentlich, teilweise unwissentlich und damit zunächst im Verborgenen verfälscht sowie unbrauchbar gemacht werden können, während eine einzige elektronische Erhebung wesentlich genauer ist. Hiermit wird die sehr wichtige Datenintegrität garantiert.

In vielen Krankenhäusern der Maximalversorgung mit einem breiten Spektrum an Behandlungsfällen und vorgehaltenen Fachabteilungen hat jede davon besondere spezielle Anforderungen an die eingesetzte Dokumentation und Software, sodass es des Öfteren für die unterschiedlichsten Teilbereiche der täglichen Prozesse zahlreiche EDV-Systeme nebeneinander gibt.

Dabei erstreckt sich in der Praxis die Spannbreite über

  • die klassische Papierakte,
  • Papierpatientenkurve,
  • ein Klinisches Arbeitsplatzsystem für den Endbenutzer,
  • Laboranforderungs- und Befunddarstellungssoftware,
  • OP-Planungsprogramm,
  • Radiologieinformationssystem,
  • Fallkodierung und Abrechnung für das Controlling,
  • Chemotherapieplanung,
  • Bestrahlungsplanung,
  • mobile Visite mit modernen Tablet-Apps über W-LAN als anteiliger Ersatz für die Papierstationskurve,
  • Sonographiebilder im Computer oder als Streifenausdruck,
  • ein elektronisches Arztbriefdiktat,
  • Narkosedokumentation (elektronisch oder als Papierversion),
  • die Krebsregisterdatenbank bis zum genannten digitalen Archiv mit gescannten Patientenakten als zum Großteil unsortierte Aneinanderreihung von langen Listen.

Zu bedenken ist darüber hinaus, dass zwischen den einzelnen Fachbereichen die Dokumentationsart für dieselben Prozessschritte durch eine historisch gewachsene Organisationsstruktur häufig divergiert: Die eine Fachrichtung hält die Anamnese auf Papier fest, wohingegen die Nachbarabteilung elektronische Formulare pflegt. Die Arztbriefschreibung reiht sich hier ein. In der Summe erschwert dies eine strukturierte Datenzusammenführung ohne angleichende Maßnahmen im Kontext der Prozessoptimierung.

Kleinere, mittlere oder Schwerpunktkrankenhäuser leisten sich diesen Luxus nicht in voller Breite, sondern beschränken sich häufig auf eine kleinere Auswahl. Die wenigsten Kliniken besitzen jedoch ein einziges Computerprogramm, das alle Erfordernisse abdecken könnte. Für den Bereich der Tumordokumentation gab es bislang für vereinzelte wenige Tumore untersuchte Abläufe von Diagnostik und Therapie mit rudimentären Ansätzen von vereinheitlichter  Dokumentation, welche sich in elektronische IT-Systeme übertragen ließen. Zudem wurden im Feld der Bioinformatik – mit ihren Gewebebanken – Ideen zum gegenseitigen Datenaustausch erarbeitet. Single-Source-Gedanken kamen in den letzten Jahren verstärkt zum Tragen, da man die Vorteile einer nur einmaligen Datenspeicherung zu schätzen begann. Eine praktische Einführung bei vorgegebenen Rahmenbedingungen einer Klinik bereitete aber Probleme. Die Interessen aller Berufsgruppen galt es unter einen Hut zu bringen und eine für alle bestmögliche Lösung zu konzipieren. Mit einer einmaligen Etablierung ist es aber nicht getan. Neue zukünftige Akteure, Veränderungen in den Prozessen an sich oder weitere Dokumentationserfordernisse sind bereits bei der ersten Planung zu berücksichtigen und nach Möglichkeit zu antizipieren.

Zusammenfassend ist offensichtlich, dass es nur Einzelarbeiten, aber keine groß angelegte Analyse für eine größere Anzahl an Tumoren vor dieser Untersuchung gab. Bisher wurde der Schwerpunkt nicht auf eine mögliche allumfassende Lösung gelegt, welche flexibel an zukünftige Anpassungen adaptierbar ist. Diagnostik und Therapie sind evidenzbasiert und durch Studien abgesichert. Medizinische Leitlinien von Fachgesellschaften mit ihren Empfehlungen als Richtschnur beziehen sich auf einzelne Tumore und sind in den meisten Fällen fast ausschließlich auf oft mehreren hundert Seiten reine Textdarstellungen mit wenigen bis gar keinen grafischen Illustrationen der Abläufe, so wie beim Prostatakarzinom, um die 600 Seiten. Mit der medizinischen Expertenliteratur und ihren Standardwerken sieht es häufig genauso aus. Diversität und Inkonsistenz in Bezug auf Darstellungstiefe und Abbildungsweise prägen die Gegenüberstellung der Einzelwerke. Ihr Vorhandensein allein reicht für eine Problemlösung nicht aus.

Aus den textuellen Darstellungen können nämlich selten widerspruchsfreie sowie vollständige und zugleich in elektronischen Entscheidungsbäumen handhabbare Modelle ohne zusätzliche Vorarbeiten erstellt werden. Diese sind aber eine zwingende Voraussetzung für eine computergesteuerte und prozessorientierte Dokumentationsunterstützung. In der Vergangenheit erhoffte man sich in der Verfolgung von klinischen Pfaden eine Lösung dieses Problems. Sie beschreiben in Abhängigkeit und stets angepasst an nur eine konkrete Organisation den optimalen Weg eines Patienten durch den Klinik-Urwald für eine definierte Fragestellung oder Erkrankung. Ihre Entwicklung ist jedoch überaus zeit- und kostenintensiv. Eine Übertragung auf andere Kliniken erfordert einen hohen Arbeitsaufwand. Somit beheben sie das bestehende Defizit nicht. Dies betrifft ebenso die für Zertifizierungen generierten Qualitätsmanagementhandbücher.

Dokumentationsstandards werden mittlerweile bedingt durch Vorgaben der Krebsregistrierung durch standardisierte Datensätze mit geforderten Merkmalen zur Meldung an die Register und der späteren statistischen Analyse beeinflusst. Allein zu wissen, welche Merkmale man beispielsweise für das Register oder aber die erfolgreiche Zertifizierung zu einem Zentrum für Tumorbehandlung oder zukünftige Forschungsvorhaben benötigt, ist nicht ausreichend. Es stellt sich vielmehr die grundlegende Frage nach der von Erfolg gekrönten Bewältigung einer stringenten Datenerhebung. Die Antwort hierauf bietet das in diesem Umfang erstmalig erarbeitete sowie verfügbare globale Konzept mit seiner Klassenbildung von Tumorerkrankungen im Rahmen der Dissertation.

Vorgehen und entwickelter Lösungsansatz

Damit alle klinischen Informationen am Ort und zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Entstehung digital festgehalten werden können, wurde eine durch Entscheidungsbäume gesteuerte Prozessunterstützung in das klinische Informationssystem am Universitätsklinikum Erlangen implementiert. Es stellt die zentrale Drehscheibe im Spannungsfeld zwischen den Fachabteilungen dar. Jeder Patient wird hierdurch auf seinem ganz individuellen Weg zu allen Bausteinen von Diagnosestellung über Behandlung bis zur Nachsorge mit elektronischen Dokumentationsformularen durch den dichten Klinik-Dschungel begleitet. Ärzte und Pflegepersonal erhalten in ihren persönlichen Arbeitslisten für jeden Patienten und Schritt eine Erinnerung an die zugehörige passgenaue medizinische Dokumentation, sobald der Patient dort einen entsprechenden Termin hat. Dem System liegt die vollständige Terminplanung aller Bereiche und Sprechstunden zugrunde. Nach erfolgreichem Abschluss des Formulars mit Pflichtfeldern erscheint bei der darauffolgenden Fachabteilung das nächste Formular für die entsprechende Berufsgruppe genau zum benötigten Zeitpunkt. Die Daten werden folglich lediglich stets einmalig erhoben und die Abläufe vollkommen elektronisch abgedeckt.

Um eine Antwort auf das eingangs angeführte Problem zu finden, wurde eine systematische umfangreiche Prozessanalyse mit angeschlossener Prozessmodellierung am Comprehensive Cancer Center des Universitätsklinikums Erlangen als eines der in Deutschland von der Deutschen Krebshilfe geförderten Spitzenzentren durchgeführt. Hierfür wurden 13 Tumore aus den Organsystemen Darm, Schilddrüse, Lymphome, Leukämie, Brust, Gebärmutter, Melanom, Lunge, Prostata, Niere und Harnblase anhand ihrer gesellschaftlichen Relevanz, bezogen auf Erkrankungs- und Todesfälle, als die wichtigsten identifiziert und daher betrachtet. Dafür wurden zur Validierung neben offiziellen amtlichen Veröffentlichungen der Krebsregister („Krebs in Deutschland“, „Verbreitung von Krebserkrankungen in Deutschland“), des Tumorzentrums Erlangen auch interne Zahlen aus der Zertifizierung zum Onkologischen Zentrum mit den einzelnen Organzentren herangezogen. Über 30 Interviewpartner aus den Bereichen der klinischen Versorgung (langjährig erfahrene Fach- und leitende Oberärzte), Dokumentation und medizinischen Informatik wurden hierzu in zwei Interviewrunden, basierend auf einem Gesprächsleitfaden, im Sinne von teil-strukturierten Interviews befragt, nachdem als Vorbereitung vorläufige Prozessmodelle für Erkennung und Therapie von Tumorerkrankungen auf Grundlage von medizinischen Leitlinien und Fachliteratur entwickelt wurden. Die Dissertation zeichnet sich im Gegensatz zu bislang veröffentlichten Einzelarbeiten zu ausgewählten Aspekten einzelner Tumore oder Dokumentationsabschnitten durch einen sehr hohen Detailgrad, die große Breite an Tumorarten und insbesondere die Präzision bei Prozessanalyse sowie Abbildungsweise aus. Dies bestätigte im Verlauf der Arbeit ebenso eine Anfrage beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Oktober 2012 nach der Existenz einer solch ausführlichen Klassifizierung: „Eine Anordnung von Tumorentitäten in Gruppen gemäß der von Ihnen genannten Gesichtspunkte ist uns nicht bekannt.“

Neben der Struktur, zeitlichen Reihenfolge der Tumordokumentation und den dazu angewandten Dokumenten oder EDV-Anwendungen wurde gezielt nach Schwachstellen im bestehenden Prozessgefüge gefahndet zum Zweck der vollständigen Beseitigung. Hieraus konnten für die medizinischen Fachrichtungen erfolgreich Optimierungspotentiale und konkrete Lösungen zur Behebung der Schwachpunkte entwickelt werden. Unter anderem wurde ermittelt, welche existierenden Papierformulare durch elektronische Äquivalente abgelöst werden konnten und wo Synergismen nutzbar sind.

Durch die gewählte Methodik konnten die Anregungen neben den Wünschen der Gesprächspartner berücksichtigt und eine unmittelbare Beteiligung an der Entscheidung für eine Lösung des Problems erzielt werden. Dadurch stiegen sowohl die Anwenderzufriedenheit als auch die Akzeptanz bei der Veränderung von langjährig praktizierten Prozessen im Sinne des Change Managements. Die zweite Befragungsrunde diente vornehmlich der Verifikation nach Einarbeitung der gewonnenen Erkenntnisse aus den ersten Interviews und Modellierung der Prozessabläufe mittels spezieller Software. Neben den eigentlichen expliziten medizinischen Inhalten wurden Papierformulare gesammelt, strukturiert ausgewertet, miteinander verglichen und besonders im Abschnitt der Anamnese- und Untersuchungsformulare ein Prototyp für eine alle beteiligten Einrichtungen übergreifende Erhebung konzipiert. Dieser berücksichtigte gemeinsame Datenfelder einerseits und beseitigte andererseits das teilweise vorbestehende Freitextchaos durch ein strukturiertes standardisiertes Auswahlangebot an Datenfeldern mit möglichst wenig freien Anmerkungen. Freitextnotizen sind nämlich zwischen den ausfüllenden Personen für eine automatisierte Auswertung in den meisten Fällen zu unterschiedlich und nur schwer zu erfassen. Erst hierdurch konnte dem Wildwuchs an historisch gewachsenen Formularen wirksam entgegengetreten werden. Außerdem sind die verantwortlichen und somit ausführenden Personen als Berufsgruppen mit den verwendeten EDV-Systemen zu jedem einzelnen Prozessschritt zugeordnet worden. Bei der Gruppe der Ärzte wurde genauer differenziert in mehrere Untergruppen: Ärzte in Weiterbildung, Fachärzte, Oberärzte, Abteilungsleitung. Als Ergebnis der Analyse konnten insgesamt 73 Workflows, also elektronisch umsetzbare Prozessabläufe, in Diagrammform mit Entscheidungsbäumen und entsprechenden Verzweigungen, generiert werden.

Es entstand daraus ein umfassendes Modell für Diagnostik-, Therapie- sowie Nachsorge- und damit verknüpfte Dokumentationsprozesse, welches sich nicht nur für eine einzige Organisation anwenden lässt, sondern sowohl auf weitere Krankenhäuser als auch Tumorarten mit äußerst geringem Aufwand rasch übertragen werden kann. Dies ist einer längerfristig nutzbaren Klassenbildung von Tumoren geschuldet. Einfache Anpassungen an den medizinischen Fortschritt und neue Erkenntnisse, beispielsweise Bestrahlungsmodalitäten oder Innovationen bei Chemotherapien, sind unkompliziert möglich, da insbesondere die beiden letztgenannten als in sich geschlossene Bausteine in die Ablaufdiagramme integriert wurden. Sie können bei Bedarf durch die Sammlung in spezifischen Datenbanken jederzeit einfach und bequem ausgetauscht oder aktualisiert werden. Da es für diese beiden Bereiche etliche Varianten in den klinischen Prozessen gibt, ist die strukturierte Eingliederung in das Gesamtgeschehen von enormer Bedeutung. Zyklen,  Dauer und damit Dosis sind in gewissen Grenzen für den individuellen Behandlungsfall verschieden und damit anzupassen.

Alle am Universitätsklinikum stattfindenden Nachsorgetermine in Sprechstunden sind direkt erfassbar, für externe Untersuchungen werden die Daten durch den Papiernachsorgepass bei dem unmittelbar nächsten Patientenkontakt in regelmäßigen Intervallen im Hause in die digitalen Formulare zeitlich nachgetragen.

Wem und wie nutzt das Modell im Kontext der Onkologie unmittelbar in der Praxis?

Das richtungsweisende Modell nutzt nicht nur einer einzelnen Gruppe, sondern mehreren gleichzeitig:

Krebspatienten mit ihren Angehörigen und die anderen involvierten Gruppen profitieren allesamt gemeinsam von der Lösung, angefangen von

  • Ärzten/Pflegekräften im ambulanten und vor allem im stationären Sektor,
  • über CIO (Chief Information Officer)/IT-Verantwortliche im Krankenhaus,
  • Medizininformatiker bis hin zu den Forschenden,
  • und somit sekundären Datennutzern (z.B. Qualitätsmanagement, Krebsregister, klinische Studien, Promotionen, Habilitationen, statistische regionale oder bevölkerungsbezogene Auswertungen, Zertifizierungen, Audits).

Patienten haben einen gewichtigen Vorteil durch die erhöhte Prozessqualität, die ebenfalls zu beschleunigten Entscheidungen und der Verfügbarkeit von Befunden beiträgt. So verkürzt sich beispielsweise die Zeit, bis ein endgültiger Biopsiebefund aus der Pathologie vorliegt. Mehrfachangaben zu Routinedaten – wie Allergien und grundlegenden Vorerkrankungen –  werden von den Beteiligten gemeinsam verwendet, anstatt diese in verschiedensten Versionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten stets aufs Neue von vorne zu erfassen. Sie werden einfach bei Bedarf regelmäßig aktualisiert, versioniert und stehen wieder den Kollegen im konkreten Behandlungszusammenhang bereit. Patienten müssen damit ihre Krankengeschichte nicht jedes Mal – zumindest gefühlt – neu erzählen, sondern der Schwerpunkt wird auf den Verlauf und die aktuelle Entwicklung gelegt. Man denke exemplarisch nur an die Aufklärungsformulare, zum Beispiel vor einer Operation oder Narkose, welche immerzu mit nahezu denselben Informationen mühsam wieder und wieder gefüllt werden müssen.

Alle medizinischen Informationen stehen durch das Modell in strukturierter und vollständiger Form allen Akteuren zur Verfügung. Dadurch werden Ärzte und Pflegepersonal in mehrerlei Hinsicht entlastet. Denn die verbreitete zeitaufwändige Suche nach der Akte oder Befunden wird abgelöst durch eine vereinheitlichte elektronische Übersicht an einer zentralen Stelle. Des Weiteren sinkt der zusätzliche Dokumentationsaufwand durch die einmalige Erhebung drastisch. Dies ist von besonderer Bedeutung: Denn Ärzte und Pflegepersonal kritisieren, dass durch die Arbeitsverdichtung sowie die wachsenden Dokumentationspflichten weniger Zeit für ihre Patienten bleibt. Das entworfene Konzept bringt in dieser Hinsicht ebenfalls Entlastung. Der Fokus liegt wieder vermehrt auf der ureigentlichen ärztlichen Tätigkeit und den Patienten anstatt des gefürchteten Bürokratiemonsters.

IT-Verantwortliche und Medizininformatiker bewegen sich beständig in einem Minenfeld: Sie müssen die Integrität, Sicherheit und Verfügbarkeit der IT-Systeme und Infrastruktur rund um die Uhr das gesamte Jahr über garantieren. Außerdem sind sie für die elektronische Krankenakte und die Unterstützung bei der Vorbereitung, Einführung und Umsetzung der digitalen Dokumentation zuständig. Die Zeitspanne, bis ein neues Dokumentationsformular den Endanwendern, also Ärzten und Pflegepersonal, bereitgestellt werden kann, wird maßgeblich durch den Entwicklungs- und praktischen Umsetzungsaufwand bestimmt. Darin liegt ein limitierender Faktor, der oft unterschätzt wird. Darüber hinaus möchte man keinen Dschungel durch eine unüberblickbare Sammlung von verschiedensten Formularen in EDV-Systemen erzeugen: Der Wartungs- und Betreuungsaufwand ist schlicht zu groß, eine gezielte Datenzusammenführung schlussendlich trotz elektronischer Dokumentation wiederum  unmöglich. Deshalb kann nicht für jede Tumorerkrankung ein eigener gesonderter Workflow mit Formularen implementiert werden. Dies trifft genauso auf die dahinterliegenden Prozesse zu, die die Dokumentationsformulare gezielt zeitlich steuern und bereitstellen sollen. Zeitliche Abstände zwischen den Bausteinen, die ausführenden Berufsgruppen und auslösenden oder aber verzögernd wirkenden Elemente für die nachfolgenden Schritte sind in der realen Implementation zwingend notwendig.

Die Herausforderung lag darin, einen Gesamtüberblick über das medizinische und zugleich dokumentationstechnische Geschehen für eine Vielzahl an Tumoren zu gewinnen, diese nicht allein klinisch, sondern auch nach Prinzipien des Softwaredesigns zu ordnen und die identifizierten Klassen schlüssig abzubilden. An diesem Punkt bietet das Modell erstmals umfassende Hilfestellung, indem es eine Klassenbildung der untersuchten Tumore in 3 Hauptgruppen mit jeweils charakteristischen medizinischen sowie dokumentationstechnischen Eigenschaften beinhaltet.

Dies sind:

  • Tumore mit häufig alleiniger operativer Behandlung,
  • Tumore mit Vor- und Nachbehandlung neben einer Operation im Sinne einer Bestrahlung oder Chemotherapie
  • und zuletzt die Gruppe der dem Blut zugeordneten Tumore, wie Leukämie und Lymphome.

Die Zuweisung zu einer der drei Klassen ist selbstverständlich zum Teil vom genauen vorliegenden Tumorstadium, damit der Ausbreitung und Metastasierung abhängig, sodass einige mehr als nur genau einer einzigen Gruppe zugehörig sind. Dies ist leicht nachvollziehbar: In früheren Stadien mag eine operative Entfernung ausreichend sein, wohingegen in Spätstadien desselben Tumors eine weitere Behandlungsmodalität hinzutreten kann. Um ähnliche oder sogar identische Elemente in den Prozessen erkennen zu können, die für die Klassifizierung vorausgesetzt werden, wurden die Tumore schrittweise einander in anfangs kleineren Gruppierungen gegenübergestellt. Die Tumore, die in einer Fachabteilung behandelt werden, weisen oft erste Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten oder Analogien auf. Dies bestätigte sich beispielsweise in der Urologie mit Prostata, Niere und Harnblase, ebenso wie in der Frauenheilkunde mit Brust- und Gebärmutterkrebs. Auf diesem Wege wird die transparente Gruppenbildung nachvollziehbar und es erschließt sich, dass eine Gruppe für sich allein genommen nicht ausgereicht hätte, um alle Erfordernisse abzudecken: Zu verschieden sind die vorstellbaren möglichen Verläufe und Varianten unter Berücksichtigung des Tumorstadiums.

Durch die schrittweise Klassenbildung können weitere Tumore einfach nachträglich ergänzend in die Gruppen eingeordnet werden. Analoge oder übereinstimmende Bausteine in den Prozessen und den digitalen Formularen sind in Teilen oder komplett als Module erneut verwendbar – entweder ohne oder mit nur sehr geringfügigen Modifikationen an anderer Stelle der Entscheidungsbäume. Die Klassifizierung ging von den Fachabteilungen als großer umspannender Rahmen bis hin zu den Einzeltumoren. Alle Prozessschritte wurden auch zeitlich in ihrer Reihenfolge in das klinische Gesamtgefüge eingeordnet und nach den Attributen „ambulant“ und „stationär“ eingeteilt.

Somit sinkt der Entwicklungsaufwand neben den damit verbundenen Ressourcen Zeit und Budget. Zudem profitieren alle Beteiligten von den rascher verfügbaren elektronischen Dokumentationshilfen. Durch das Konzept wurde den Medizininformatikern ein neuartiges Werkzeug an die Hand gegeben, mit dessen Hilfe sie ihrer gewohnten Dolmetscherrolle zwischen reinen Informatikern im Hintergrund und den klinisch Tätigen im Vordergrund gerecht werden und zwischen beiden Welten erfolgreich vermitteln können.

Langfristiger Nutzen und Ausblick auf zukünftige Entwicklungen

Neben der schon erwähnten längerfristigen Anwendbarkeit des Modells wurde dessen Eignung durch Abgleich mit den Komponenten des onkologischen Basisdatensatzes sichergestellt und bestätigt. Alle relevanten Elemente von Diagnose über Verlauf, Operation, Strahlentherapie, systemischer Behandlung sowie Abschluss- und Autopsiedaten können für die weitere Datenmeldung an das Krebsregister ohne Mehrfacherhebungen eingesetzt werden, vorausgesetzt sie wurden einmalig elektronisch erfasst.

Die richtungsweisenden Ergebnisse flossen mit Erfolg bereits in die Konzeption und Implementation zahlreicher Dokumentationsformulare sowie Workflows für die Single-Source-Tumordokumentation am Comprehensive Cancer Center des Universitätsklinikums Erlangen ein. Schwerpunktmäßig wurden die Departments Urologie, Allgemein-/Viszeralchirurgie, Thoraxchirurgie,  Strahlenheilkunde, Frauenheilkunde, Dermatologie, Internistische Hämatologie und Onkologie sowie Nuklearmedizin mit digitaler Dokumentationsunterstützung ausgestattet. Dasselbe leisteten die Ergebnisse bei der Überarbeitung bestehender digitaler Formulare im Zuge einer fortwährenden Weiterentwicklung und Verbesserung vorbestehender Abläufe. Die Dokumentationslast ließ sich so spürbar verringern und die Anwenderzufriedenheit steigern.

Die umfassende Gegenüberstellung wird als ein Meilenstein für die in Zukunft anstehende Entwicklung und Bereitstellung neuer Dokumentationsunterstützung von großem Wert sein. Die Unterteilung des Modells in Module für die Dokumentationskategorien Anamnese/Untersuchung, Labor, Bildgebende Verfahren (z.B. Ultraschall, Röntgen), Apparative Diagnostik (z.B. EKG, Lungenfunktion), Biopsie, Therapiezweige (z.B. Operation, Bestrahlung, Chemotherapie) sowie Nachsorge erleichtert dessen praktische Anwendung bei der Umsetzung in konkrete elektronische Dokumentationsformulare und deren effektive Prozesssteuerung.

Forschende und sekundäre Datennutzer greifen im Endergebnis auf vollständige klinische Daten zurück, welche sie unter anderem mittels Big Data-Analysewerkzeugen untersuchen.

Eine optimierte Verknüpfung von Daten aus der Patientenversorgung mit denen der Forschung trägt so zu einer Verbesserung der Diagnosestellung ebenso wie der Behandlung von Krebserkrankungen bei und hilft die voneinander getrennten Inseln miteinander zu verbinden. Für Forschende erleichtert eine vollständige Datenbasis statistische Auswertungen und erhöht deren Aussagekraft. Mehrfacherhebungen werden vermieden und die Datenqualität steigt entscheidend. Durch weitere Forschung können neue Therapien gefunden werden, die letztendlich der gesamten Bevölkerung zu Gute kommen.

Wir können gespannt sein, was eine weitergehende Verzahnung von klinischer Patientenbetreuung, Forschung und Biomedizin – weg von Insellösungen und Abschottung –  auf Basis des Förderkonzepts des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durch die Vernetzung aller verfügbaren elektronischen Informationen an Innovationen in den nächsten Jahren hervorbringen wird. Der Weg soll weg vom Datengrab zur Datenintegration führen.