„Die Herausforderung bestand darin, die Balance zwischen den berechtigten Interessen der klinisch tätigen Stakeholder und den IT-Verantwortlichen herzustellen: Weder ein komplett eigener Workflow pro Tumorentität, noch One size fits all, d.h. ein verallgemeinerter generischer Workflow für alle unter Verlust der Besonderheiten.“
– Dr. med. Stefan Wagner, MHBA
Themenspezifische eigene Publikationen
Wagner, S./Beckmann, M.W./Wullich, B./Seggewies, C./Ries, M./Bürkle, T./Prokosch, H.-U. (2015): Analysis and classification of oncology activities on the way to workflow based single source documentation in clinical information systems, BMC Medical Informatics and Decision Making (2015) 15(1):107, DOI 10.1186/s12911-015-0231-x, PMID: 26689422 (PubMed), free full text (Open Access).
Wagner, S. (2015): Analyse, Modellierung und Optimierung der Dokumentations-, Diagnostik- und Therapieprozesse für verschiedene Tumorerkrankungen am Universitätsklinikum Erlangen, Dissertation, Medizinische Fakultät, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), 724 Seiten.
Posterbeitrag für den Kongress Medinfo 2013 in Kopenhagen:
Bürkle, T./Martin, M./Schütz, A./Starke, K./Wagner, S./Ries, M./Wullich, B./Beckmann, M.W./ Prokosch, H.-U. (2013):
Workflows in Cancer Treatment and their influence upon clinical documentation: From One Cancer Entity to the Clinical Cancer Center (Beitrag im Tagungsband), Studies in Health Technology and Informatics 2013;192:1181.
Persönliche Literaturempfehlungen zum Bereich der Tumordokumentation
Unter Rückgriff auf den Text und die Grafiken meines Posters aus dem Jahr 2016 werden wesentliche Eckpunkte und Kernbotschaften meines umfangreichen Projektes erläutert.
Wagner, S. (2016): Analyse, Modellierung und Optimierung der Dokumentations-, Diagnostik- und Therapieprozesse für verschiedene Tumorerkrankungen am Universitätsklinikum Erlangen: Ein Weg durch den Dschungel der Tumordokumentation, Posterausstellung bei der Promotionsfeier der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).
Posterpräsentation (2016)
Foto: R. Windhorst (2016), Quelle: https://www.med.fau.de
Poster
Hintergrund / Fragestellung
Die medizinische Dokumentation ist ein uneinheitlicher Dschungel aus Papierformularen und mehreren parallelen EDV-Anwendungen. Insbesondere bei Tumoren erstrecken sich Prozesse über lange Zeiträume mit zahlreichen Fachrichtungen (inter- und multidisziplinär, Abb. 1). Dokumentationspflichten beanspruchen mehr als 30 % der täglichen Arbeitszeit. Laut der Europäischen Kommission haben Kliniken in Europa mit Fokus auf die IT-Landschaft erheblichen Nachholbedarf.
Eine systematische einheitliche Gegenüberstellung der Diagnostik-, Therapie- sowie Dokumentationsabläufe für eine Vielzahl an Tumortypen war nicht verfügbar, sondern lediglich Einzelarbeiten. Medizinische Leitlinien beziehen sich auf Einzeltumore: häufig reine Textdarstellungen mit wenigen Illustrationen (Prostatakarzinom: ca. 600 Seiten). Diversität und Inkonsistenz in Leitlinien, Fachliteratur und klinischen Pfaden in Bezug auf Darstellungstiefe und Abbildungsweise charakterisierten die Ausgangslage. Das Zentrum für Krebsregisterdaten am Robert-Koch-Institut erwartet für das Jahr 2016 bei Männern über 260.000 und bei Frauen über 230.000 Neuerkrankungen (Abb. 2).
Krebs zählt zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland.
Das Comprehensive Cancer Center (CCC) strebt eine Single-Source-Dokumentation an: einmalige Erfassung medizinischer Daten zum Entstehungszeitpunkt und Wiederverwendung ohne Zusatzaufwand für weitere Zwecke wie Forschung und Krebsregister. Als Onkologisches Spitzenzentrum wird das CCC von der Deutschen Krebshilfe gefördert.
Onkologische Informations- und Dokumentationssysteme sind hierfür notwendig, aber meistens nur in spezifischen Bereichen wie Bioinformatik und Molekularer Forschung anzutreffen. Für das Prostatakarzinom war eine elektronische Tumordokumentation mit Workflow bereitgestellt worden. Der erfolglose Versuch der Übertragung auf weitere Tumore war Ausgangspunkt für die Prozessanalyse.
Das Ziel war die Schaffung einer Basis für eine zukünftige möglichst weitgehend vereinheitlichte und workflowgesteuerte klinische Tumorbasisdokumentation.
Hierzu wurden die folgenden Fragestellungen bearbeitet:
- Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede in Diagnostik- und Therapie
- Einteilung der Tumorentitäten in Klassen aufgrund der Abweichungen
- Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Dokumentationsprozessen
- Stolpersteine für gemeinsame Dokumentation aller Entitäten und Problemlösung
- Unterteilung der Dokumentationsprozesse (ambulant, stationär, teil-stationär)
- Zeitliche Reihenfolge – auch aus Registersicht, Abschlusszeitpunkte.
Methodik
In einem Prozess aus 14 Teilschritten wurden die Methodenkonzepte Prozessanalyse und -optimierung, Experten-Interviews, Workflowmodellierung und Feedback vereint (Abb. 3). Eine großangelegte Prozessanalyse wurde am Comprehensive Cancer Center durchgeführt für 13 Tumore aus den Organsystemen Darm, Schilddrüse, Lymphome, Leukämie, Brust, Gebärmutter, Melanom, Lunge, Prostata, Niere und Harnblase.
Interviewtechnik in mehreren Etappen: Fremderhebung mit teil-strukturierten Gesprächsleitfäden, über 30 Interviewpartner aus den Bereichen der klinischen Versorgung (langjährig erfahrene Fach- und leitende Oberärzte), Dokumentation und medizinischen Informatik.
Die Systemanalyse fokussierte auf:
- Struktur
- Belege/Dokumente
- Ablauf, Synergismen
- Aufgaben
- Schwachstellen (Verbesserungs- und Optimierungspotentiale der Dokumentation).
Mit Microsoft Visio Professional erfolgte die Modellierung von Workflows mit Einzelschritten, Prozessverantwortlichen und Dokumentationsarten (Papierdokumentation, IT-Systeme).
Ergebnisse
Insgesamt 73 Workflows für 13 Tumorentitäten mit 82 Papierformularen neben der elektronischen Patientenakte wurden identifiziert – auf 724 Seiten mit 130 Abbildungen, 94 Tabellen, 23 medizinischen Klassifikationen und 12 Nachsorgeschemata.
Der vollständige komplexe inter- und multidisziplinäre Diagnostik- und Behandlungsprozess mit Dokumentation und Nachsorge wurde als Workflow modelliert.
Eine Klassenbildung erfolgte zuerst nach Fachabteilungen und danach auf Ebene der Tumorentitäten mit zwei Hauptkategorien: Solide Entitäten versus Nicht-solide Entitäten. Die Gegenüberstellung ermöglichte die Generierung von 3 Hauptklassen mit Unterkategorien (Abb. 4):
- [1] Tumore mit häufig alleiniger operativer Behandlung (in frühen Stadien)
- [2] Tumore mit Vor- und Nachbehandlung neben einer Operation (Bestrahlung und/oder Chemotherapie, vor allem in fortgeschrittenen Stadien)
- [3] nicht-solide Tumore: Leukämie, Lymphome, Plasmozytom.
Für diese Klassen ließ sich eine vereinheitlichte gemeinsame Tumordokumentation etablieren. Ein vereinheitlichter Workflow zur Implementation in die Engine des Informationssystems wurde abgeleitet. Das Modell ist die Plattform für die praktische Umsetzung zukünftiger IT-Projekte durch das Medizinische Zentrum für Informations- und Kommunikationstechnik (MIK). Umfangreiche, teilweise unübersichtliche und komplexe Prozesse über lange Zeiträume mit zahlreichen Entscheidungsoptionen wurden in einem Gesamtmodell gebündelt.
Dieses fußt auf:
- Analyse von Gemeinsamkeiten und Unterschieden
- Gegenüberstellung diagnostischer, therapeutischer Prozesse sowie Dokumentation
- Gruppierung der Entitäten in Klassen anhand Hauptcharakteristika
- Definition der Bedingungen für eine gemeinsame einheitliche digitale Dokumentation
- Verbesserungs- und Optimierungspotentialen:
konkrete Lösungen zur Behebung der Schwachpunkte - Ablösung der noch bestehenden parallelen Papierdokumentation
- Zuordnung aller Merkmale für Krebsregister-Meldung anhand des Datensatzes der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren (Diagnose, Verlauf, Operation, Strahlentherapie, Systemische Therapie, Abschluss, Autopsie).
Jeder Patient wird auf dem individuellen Weg von Diagnose über Behandlung bis zur Nachsorge mit elektronischen Dokumentationsformularen durch den dichten Klinik-Dschungel begleitet. Ärzte und Pflegepersonal erhalten in Arbeitslisten eine Erinnerung an die Dokumentation.
Analoge oder übereinstimmende Prozess-Bausteine und digitale Formulare sind als Module erneut verwendbar – entweder ohne oder mit nur geringfügigen Modifikationen.
Kernbereiche der Dokumentationsanalyse waren:
- Anwendungssysteme der Fachabteilungen
- Strukturierte Auswertung der Papierformulare mit Konzeption eines Prototyps für ein Einrichtungsübergreifendes Anamnese- und Untersuchungsformular
- Arztbriefschreibung
- Digitalisierte Papierakten
- Tumortagebuch
- Auftragskommunikation: Papierformulare, elektronische Äquivalente
- Stationslisten/Belegungsplan.
Schlussfolgerung
Die Tumordokumentation an einem Onkologischen Spitzenzentrum kann durch ein workflowbasiertes, übertragbares sowie langfristig nutzbares Modell aus 3 Workflowgruppen mit Verzweigungen in einem Klinischen Informationssystem (Workflow-Management-System) abgebildet werden.
Interessen aller Berufsgruppen
wurden berücksichtigt. Eine Übertragbarkeit des Konzeptes auf
weitere Tumorentitäten und Organisationen ist
mit wenigen Modifikationen gegeben.
Anpassungen an
den medizinischen Fortschritt sind unkompliziert möglich. Die Unterteilung in Module
für Dokumentationskategorien
erleichtert die praktische Anwendung
(Abb. 5).
Zusätzliche Dokumentationsmodule können rascher bereitgestellt werden (Reduktion von Entwicklungszeit, Kosten, Implementierungs- und Wartungsaufwand), durch Rückgriff auf Formulare und Workflowschritte. Es profitieren Krebspatienten, Ärzte/Pflegekräfte, CIO (Chief Information Officer), Medizininformatiker bis hin zu den Forschenden und sekundären Datennutzern (z.B. Qualitätsmanagement, Krebsregister, klinische Studien, statistische Auswertungen, Zertifizierungen, Audits).
Patienten erleben eine erhöhte Prozessqualität: beschleunigte Entscheidungen und Verfügbarkeit von Befunden.
Bislang wurden schwerpunktmäßig die
Departments Urologie, Allgemein-/Viszeralchirurgie, Thoraxchirurgie,
Strahlenheilkunde, Gynäkologie, Dermatologie, Internistische Hämatologie und
Onkologie sowie
Nuklearmedizin mit
digitaler Dokumentationsunterstützung ausgestattet.
Die Dokumentationslast ließ sich spürbar verringern und die Anwenderzufriedenheit steigern.
Mehrfacherhebungen von Daten aus der Patientenversorgung für weitere Nutzungsszenarien werden weitestgehend vermieden. Der standardisierte optimierte Ablauf senkt die Dokumentationslast um 25 %.