Kurzfassung der Masterarbeit


Bewertungskriterien für Krankenhausinformationssysteme (KIS): Aufnahme bis Entlassung

Hintergrund, Motivation und innovative Fragestellung

Der stationäre Sektor besteht aus einem inter- und multidisziplinären Dienstleistungsprozess. Aufgrund von Schnittstellen mit Ineffizienzen und überlappenden Prozessen sind redundante Tätigkeiten mit aufwändiger Dokumentation charakteristisch. Medienbrüche zwischen Papier und digitaler Datenverarbeitung verlängern Prozesszeiten und führen zu Mehraufwand durch Mehrfacherhebungen sowie manuelle Übertragungen. Erschwerte Organisation, Kooperation sowie Kommunikation sind die Folge, woraus negative Effekte resultieren, wie unnötige Beanspruchung von Ressourcen, vor allem in Diagnostik und Therapie. Defizite in der Informationslogistik haben nicht nur negative Auswirkungen auf die Versorgungsqualität, sondern auch finanzielle, etwa Leerstände von OP-Sälen. Die gezielte Zusammenarbeit aller Berufsgruppen ist von großer Bedeutung. Sie benötigen umfangreiche Informationen zur bestmöglichen Aufgabenerfüllung. Informations- und Wissenslogistik werden als Erfolgsfaktor angesehen, um Daten rechtzeitig, in der richtigen Aufbereitung, am richtigen Ort und für die Prozessbeteiligten zur Entscheidungsunterstützung bereitzustellen.

Datenverarbeitung ist ein bedeutender Produktivitäts- und Qualitätsfaktor im umkämpften Wettbewerb. Deutsche Krankenhäuser fallen bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich weit zurück. Der Digitalisierungsgrad ist sehr gering. Es besteht hoher Nachholbedarf. Integrierte KIS können dazu beitragen, Informationslücken zu beseitigen sowie Prozesse zu verkürzen. 20 bis 40 % der Leistungen im Gesundheitswesen stellen Erfassung von Daten sowie Kommunikation dar. Ärzte verbringen täglich mehrere Stunden mit Dokumentation. 85 % schätzen die IT-Prozessunterstützung als mittelmäßig bis sehr schlecht ein. Ineffiziente Prozesse mit mangelnder strukturierter Dokumentation, Weitergabe und erneuter Nutzung von Daten sowie Automatisierung führen zu Verzögerung, Zeitverlust, Kostenexplosion und Fehlversorgung. Erschwerend kommt hinzu, dass Hersteller medizintechnischer Geräte und Software eine technische Anbindung trotz Schnittstellen häufig nicht problemlos sicherstellen, woraus parallele Insellösungen mit eigenständiger Datenhaltung entstehen, welche effizienter Zusammenarbeit und Vernetzung entgegenstehen.

Prozesse sind selten gezielt aufeinander abgestimmt. Stattdessen werden Anwendungen oftmals nur zur elektronischen Dokumentation genutzt. In der Folge entstehen unzweckmäßige Abläufe, welche wiederholt zwischen elektronischen sowie analogen Prozessschritten wechseln, ohne Prozesse, Dokumentation und Datenaustausch komplett abzudecken. Ein Großteil der Ärzte erhofft sich zwar eine Effizienzsteigerung durch die Digitalisierung. Der Status quo zeigt aber einen Mangel an dazu erforderlicher benutzerfreundlicher Software und umfassender disziplinenübergreifender elektronischer Dokumentation.

Deswegen ist es entscheidend, den Alltag im Krankenhaus so effizient wie möglich zu gestalten. Die Herausforderung besteht darin, ein koordiniertes Prozessgeschehen nacheinander und parallel ablaufender Leistungen informationstechnisch abzubilden. In hohem Maße ist dies von der Vernetzung der Bereiche abhängig, um Doppelarbeiten sowie Mehrfacherhebungen zu reduzieren und eine gemeinsame Informationsbasis mit einer mehrmaligen automatischen Verwendung einmal dokumentierter Informationen (Single-Source) umzusetzen. Krankenhausinformationssysteme haben sich von Abteilungssystemen zu übergreifenden Anwendungen entwickelt und umfassen zahlreiche Programme von zumeist unterschiedlichen Herstellern mit Redundanzen durch unzureichende funktionale Integration und eingeschränkte Interoperabilität.

Integrierte KIS können Schnittstellenprobleme überwinden, indem sie den Zugriff beschleunigen, die Qualität der Kommunikation erhöhen sowie eine zeitnahe Verfügbarkeit sicherstellen und sich positiv auf Prozess- und Ergebnisqualität auswirken. Dennoch empfinden es viele Ärzte weiterhin als schwierig, zielgerichtet vollständige Informationen zu erhalten, trotz der Fortschritte im Vergleich zur ausschließlich papiergebundenen Dokumentation. Zunehmende Spezialisierung, Komplexität, medizinischer Fortschritt und steigende Komorbiditäten lassen die Bedeutung einer systematischen Informationsverarbeitung für das Krankenhaus als Ganzes steigen. Bewertungen solcher Systeme stellen die entscheidende Voraussetzung für deren zielgerichtete Entwicklung und eine sowohl qualitativ hochwertige als auch effiziente Versorgung dar.

Den wenigen zuvor verfügbaren Kriterien ist gemeinsam, dass sie zu allgemein und nicht umfassend genug sind, um sie unmittelbar auf ein Krankenhaus mit dieser globalen Zielsetzung der Effizienzsteigerung anzuwenden. Im Rahmen der Masterarbeit wurden deshalb umfassende Bewertungskriterien für ein effizientes Krankenhausinformationssystem entwickelt. Am Praxisbeispiel ORBIS von Agfa HealthCare[1] am Klinikum Fürth (807 Betten) als Lehrkrankenhaus der Universität Erlangen-Nürnberg wurden diese angewandt.

Kernergebnisse einschließlich Methodik

347 Seiten mit 240 Abbildungen, 28 Tabellen, 92 Anhängen und 1.085 Fußnoten umfasst die Entwicklung der Kriterien und Bewertung des KIS. Übergeordnete, medizinische und administrative Ziele von KIS und stationären Einrichtungen wurden zusammen mit Anforderungsprofilen der Stakeholder erarbeitet. Kriterien im Sinne zu erfüllender Anforderungen wurden aus den Zielen abgeleitet, um Verfügbarkeit, Zweckmäßigkeit und effiziente Integration der Funktionalitäten zu beurteilen. Die Entwicklung der 1.102 Kriterien basierte auf einer Kombination aus Literaturanalyse, Einbezug praktischer Anforderungen, Ableitung aus Systemzielen und einer tiefgreifenden Produktanalyse einschließlich Stark- und Schwachstellen, die zugleich verfügbare Erweiterungen (AddOns) unter die Lupe nahm, und der Kreativitätsmethode Brainstorming.

Als Ausgangspunkt wurde ein medienunabhängiger Anforderungskatalog der Informationsverarbeitung in Krankenhäusern differenziert analysiert und modifiziert. Da die meisten der Kriterien zu allgemein waren und keinen Fokus auf eine effiziente Gestaltung des Klinikalltags inklusive Vernetzung legten, wurden darauf aufbauend eigene umfassende Kriterien formuliert. Funktionsumfang, Benutzeroberfläche und Verknüpfung mit Drittanbietersystemen wurden anhand der Implementation eingehend untersucht. Sowohl theoretisch verfügbare als auch eingesetzte Funktionalitäten wurden ausgewertet, darunter mehr als 260 integrierte Wissensdatenbanken für Administratoren und Endanwender und die Website des Herstellers. Zusätzlich wurde die Vision des Klinikums analysiert, mit Hinweisen auf Ziele der Organisation: Prozessoptimierung und fortwährende Verbesserung. Erkenntnisse des KTQ-Plus-Verfahrens 2018 wurden bei der Kriterienentwicklung berücksichtigt. Vergleichende Analysen des AddOn-Showrooms und Systems vor Ort wurden vollzogen, ärztliche Kollegen sowie Pflegekräfte in einer offenen Fremdbeobachtung einbezogen.

Ergänzend zu 612 Screenshots wurden 50 Krankengeschichten anonymisiert ausgewertet, um Dokumente, Anforderungen, Funktionalitäten, Menüstruktur und Papierdokumente umfassend zu analysieren. Als Kreativitätsmethode wurde Brainstorming neben der Informationsbeschaffung eingesetzt. Außerdem wurden besonders bedeutsame Teilbereiche und Anforderungen an eine zeitgemäße IT-Unterstützung ermittelt. Optimale Planung, Steuerung, Zusammenarbeit und Minimierung der Dokumentationsbelastung sind besonders entscheidend. Vor allem im OP mit Einfluss auf vor- und nachgelagerte Leistungen fallen nicht nur Wertschöpfung, sondern auch Kosten am größten aus. OP-, Anästhesie- und Intensivdokumentation wurden die meisten Kriterien pro Teilaufgabe zugeordnet. Als effizienzsteigernd wurden Funktionalitäten und Merkmale eingestuft, die Datenaustausch, Zugriff und Vernetzung fördern, um eine Mehrfachdokumentationen vermeidende Arbeitsweise zu erreichen. Der Blickwinkel reichte von der Aufnahme bis zur Entlassung.

Im Vergleich zu Vorarbeiten sind die Kriterien wesentlich detaillierter und spezifischer. Gruppen, Aufgaben, Teilaufgaben und Ziele wurden erheblich erweitert. Aufgabenbezogene Anforderungen fokussierten auf Patientenversorgung, Krankengeschichte, Organisation, Ressourcenplanung, Management, Forschung und Lehre. Aufgabenübergreifende Anforderungen konzentrierten sich auf Management und Betrieb des Informationssystems, Integration, Architektur, Datenschutz, Datensicherheit sowie Benutzerschnittstelle.

Die Bewertung der lokalen und maximal möglichen Implementation, Soll-Zustand sowie Erreichungsgrad wurden einander gegenübergestellt und auf Ebene der Teilaufgaben aggregiert. Detaillierte Lösungsansätze zur Optimierung der aufgezeigten Schwachstellen wurden dargelegt. Alle Bewertungskriterien wurden tabellarisch farblich einheitlich kodiert. Bei 959 Aufgabenbezogenen Anforderungskriterien erzielte die Fürther Implementation 2.285 von 2.877 Punkten (79 %), die größtmögliche Funktionalität 2.843 Punkte (99 %). Bei 143 Aufgabenübergreifenden Kriterien erzielte die Implementation vor Ort 379 von 429 Punkten (88 %), die umfassendste Implementation 426 Punkte (99 %). Usability kam eine hohe Bedeutung zu, da davon der Zeitbedarf zur Aufgabenerledigung maßgeblich beeinflusst wird (im Praxisbeispiel Score von 80 %).

Auf einen Blick wurde deutlich, wo und wie Effizienzsteigerungen durch Module, Funktionen, AddOns sowie Anpassungen erzielbar sind. AddOns wurden im Hinblick auf mögliche Nutzung, bisherige alternative Lösungen sowie Soll-Zustand detailliert analysiert. Von 43 zielführenden AddOns sind nur 17 installiert (40 %). Oft wird stattdessen noch auf ineffiziente und umständliche Drittanbietersoftware sowie Papierformulare zurückgegriffen. Mit 26 zusätzlichen AddOns ließen sich die aufgedeckten Schwachstellen beseitigen.

Typische Elemente von KIS wurden in Bezug auf Integration in ORBIS, Papierdokumentation sowie alternative Drittanbietersoftware analysiert. Besonders ins Gewicht fiel die fehlende medizinische Wissensdatenbank zur Entscheidungsunterstützung neben der mit Medienbrüchen behafteten Dokumentation der Anästhesie und Intensivstationen. Parametrierung und Personalisierung spielen eine große Rolle. Papierdokumentation gilt es in digitale Dokumentationspakete zu überführen. Spezialsysteme für Abteilungen sind nicht mehr erforderlich, sofern integrierte Funktionen des KIS oder AddOns diese gleichwertig ersetzen.

Bewertungskriterien hängen zwar vom Anwendungsfall, Zielen und Beurteilern ab. Die Kriterien sind dennoch mit geringfügigen Modifikationen auf weitere Einrichtungen gewinnbringend übertragbar, z.B. für Benchmarkingaktivitäten. Davon profitieren Ärzte, Pflegekräfte und Patienten durch Dokumentationsunterstützung und Entlastung: mehr Zeit, geringere Kosten durch Effizienzsteigerung, weniger Informationsverluste durch Übertragungen und schnellere, qualitativ hochwertigere Verfügbarkeit einmalig erfasster Daten.


[1]              Marktführer im deutschen Markt für Krankenhausinformationssysteme